Willy Vlautin: „Man ist drei Fehltritte davon entfernt, in einem Auto zu leben“

Die Sonne scheint an diesem Mittag zum Fenster herein. Willy Vlautin (57) sitzt in dem Dachzimmer seiner Farm, auf der er 30 Kilometer außerhalb von Portland, Oregon, mit seiner Frau lebt. Anlass des Gesprächs ist das Erscheinen von „Mr. Luck & Ms. Doom”, das neue Albums seiner Band The Delines, voller bewegender Songs über Underdogs und Verlierer. Der Titelsong hat – ein Novum – ein Happy-End. Das hatte er der Sängerin Amy Boone versprechen müssen – und passte auch zur Veröffentlichung am Valentinstag.
Hallo Willy Vlautin! Auf dem neuen Delines-Album „Mr. Luck & Ms. Doom“, dessen Texte literarisch sind, hört man von Menschen, die hart um ihr Dasein ringen. Woher kommen Ihre Figuren?
Manchmal kommen sie aus einer Geschichte, die ich von Freunden höre. Manches ist frei erfunden. Oft sind es Menschen, die man auf der Straße trifft. In neuen Songs wie „The Haunting Thoughts“ oder „Her Ponyboy“ geht es viel um Drogenmissbrauch. Das hat mit der Opioid-Krise in unserer Stadt Portland zu tun. Es ist herzzerreißend. Es gibt hier viele junge Menschen, die in Zelten oder auf der Straße leben. Ich muss nicht einmal darüber nachdenken – das fließt automatisch in meine Songs ein.
Willy Vlautin über die Heldinnen und Helden seiner Songs und Bücher
Sind diese Figuren in Ihrem eigenen Leben verwurzelt?
Ja. Seit ich ein Kind bin, schreibe ich. Und ich schreibe über beschädigte Menschen, weil ich selbst beschädigt bin, ich schreibe über Menschen, die kämpfen, weil ich selbst gekämpft habe. Ich fühle mich wohl, wenn ich über diese Figuren schreibe, weil ich mich dann weniger allein fühle.
Wollten Sie diesen Leuten eine Stimme geben?
Ich wusste immer, worüber ich schreiben wollte. So mit elf schrieb ich schon Texte über die Arbeiterklasse. Das blieb. Ich arbeitete mal als Hausmeister und sagte mir: Warum kann ein Hausmeister kein Held sein. Ich hatte mich in die Kassiererin eines Lebensmittelladens verliebt. Und ich sagte: Diese Frau hat einen Roman verdient. Meine Mutter wurde sexuell belästigt, bekam weniger Lohn als ein Mann, und sie erzählte mir jeden Abend davon. Und ich dachte mir: Warum kann eine solche Frau nicht eine Heldin sein? Weil es doch heldenhaft ist, zwei Kinder allein großzuziehen. Sie hat nie aufgegeben. Für mich ist das das Heldenhafteste überhaupt.
Oft haben Ihre Texte ein offenes Ende – wie in „Little Earl“: Zwei Kids, einer ist verletzt, fahren durch die Nacht. In „The Haunting Thoughts“ denkt der Protagonist nach aller Düsternis über Schönheit nach. Man kann hoffen.
Als Fan liebe ich es, wenn mich Songs oder Romane einfach in eine Welt fallen lassen. So gibt es in „Little Earl“ diese beiden Brüder, die zu viel Zeit haben und es vermasseln. Sie rauben einen kleinen Laden aus, um etwas zu essen zu haben: Pizza, Bier. Und der Bruder wird angeschossen. Ich wollte, dass Sie, der Zuhörer, sich mit ihnen in das Auto setzen. Man weiß nicht, was passieren wird – das ist mein Ding. „The Haunting Thoughts“ ist ein Song, den ich jeden Tag selbst fühle. Du wachst morgens auf, denkst an deine größte Angst und hoffst, dass sie dich nicht verzehrt. Wenn ich in Portland herumlaufe und all diese gebeutelten Menschen sehe, 35 und jünger, bekomme ich Angst, dass es mich eines Tages auch treffen wird. Ich weiß natürlich, dass es nicht so sein wird. Aber ich kann dieses Gefühl nicht loswerden.

Soul mit einer Prise Country und einem Hauch von Jazz: Bassist Freddy Trujillo, Sängerin Amy Boone, Gitarrist und Songwriter Willy Vlautin, Keyboarder und Blechbläser Cory Gray und Schlagzeuger Sean Oldham sind The Delines aus Portland/Oregon.
Quelle: Paolo Brillo
Willy Vlautin hing in seiner Teenager-Zeit in Bars für alte Männer ab
Woher kommt diese Angst?
Meine Mutter hat immer gesagt: „Wenn man in einer Unterklassenfamilie ist, ist man nur drei Fehltritte davon entfernt, in einem Auto zu leben. Also sei vorsichtig.“ Sie war sehr besorgt darüber, und ich auch. Ich hatte Angst, dass ich geradezu dorthin gezogen würde, zu dem Gedanken, aufzugeben, mich selbst zu zerstören. Als ich jung war, schlich ich mich in Bars für alte Männer und versuchte, wie ein alter Mann zu sein. Mit 16, 17 Jahren gingen alle anderen zum Tanzen, auf Partys, während ich mit alten Männern abhing. Ich dachte wohl, ich würde sowieso ein Penner werden und ich wollte mich früh an dieses Gefühl gewöhnen. (lacht) Irgendwie klingt das ja jetzt nach einer Tom-Waits-Romanze.
Haben Sie zuerst Songs oder Geschichten geschrieben?
Ich habe Lieder geschrieben seit ich elf Jahre alt war. Mein Bruder war ein Highschool-Folksänger – vier Jahre älter. Und ich habe alles gemacht, was er gemacht hat. Als mein Bruder eine Gitarre bekam, fing ich an, Gitarre zu spielen. Er schrieb Lieder und sagte zu mir: „Du solltest Lieder darüber schreiben, was du fühlst“. Ich war ein trauriges kleines Kind und tat das dann auch. Und ich liebte Schallplatten so sehr, dass ich in einer Band mitspielen wollte. Du kannst nicht mit deinen Platten schlafen, du kannst sie nicht essen – um ihnen näher zu kommen, dachte ich mir, muss ich in eine Band eintreten. Ich war in so schlechten Bands, und ich war ein so schlechter Musiker mit einer so schlechten Stimme. (lacht) Aber ich habe eine Menge Songs geschrieben.
Willy Vlautin über den Einfluss der Musik auf seine Kindheit
Was hat Ihnen die Musik gegeben?
Was mich an der Musik gekillt hat, war der Eskapismus. Man konnte einen Song auflegen und ganz woanders sein. Das hat mein Leben verändert. Sie half mir, meine Kindheit zu überstehen. Ich lege eine Platte auf und plötzlich befinde ich mich in der Welt von „Nebraska“ (Albumtitel) mit Bruce Springsteen. Wenn ich mir „Swordfishtrombones“ (Albumtitel) von Tom Waits anhöre, steige ich aus einem Handelsschiff und spiele – mit dem Tattoo einer nackten Frau auf dem Rücken – Karten und trinke einen Singapore Sling mit einem Zwerg. Diese Welterschaffung war es, die mich angetrieben hat. Mehr und mehr wollte ich dasselbe tun. Ich liebte die Gegend, in der ich aufgewachsen war (Anm. d. Red.: Reno, Nevada), und ich wollte über diese Orte schreiben. Wie der frühe Springsteen, wie Waits, The Pogues, The Jam. Als The Jam sich auflösten, habe ich geweint.
Hatten Sie jemanden, der Sie ermutigt hat?
Jahrelang nicht! Aber als ich so 26 war, habe ich einen Abendkurs in kreativem Schreiben belegt. Ich kannte niemanden, der Romane schrieb. Die Lehrerin war wirklich hübsch, sie war selbst eine Dichterin, eine flamboyante Cowboy-Dichterin. Sie trug türkisfarbene Cowboystiefel, war sehr kokett, mochte meine Geschichten, und sagte „Ich lese meinem Freund abends im Bett deine Geschichten vor“. (lacht) Und von da an schrieb ich ihr in jeder Stunde etwa 30 Seiten voll und sie nahm mich zur Seite und sagte: „Du machst mich fertig, Mann! Ich habe keine Zeit, alle deine Romane zu lesen.“ Aber das war das erste Mal, dass es bei jemandem funktioniert hat. Und ich wollte nicht damit aufhören. Ich habe meine Geschichten nie jemandem gezeigt, außer in dieser Klasse. Und ich mochte es, in einer Band zu sein. Zu diesem Zeitpunkt war ich zwar in keiner Band, die irgendjemandem gefiel. Aber ich mochte die Kameradschaft. Ich bin ein gutes Rädchen in einer Maschine.
Willy Vlautin über den jungen Bruce Springsteen
Heute werden ihre Lieder mit denen von Springsteen verglichen. Und als Autor nennt man Sie in einem Atemzug mit John Steinbeck.
Steinbeck... (er holt das alte Steinbeck-Foto, das schon neben seinem Kinderbett hing). Ich habe nicht das Gen für ein großes Ego, ich hatte immer Probleme mit dem Selbstbewusstsein. Aber wenn ich in einem Satz mit einem dieser beiden Jungs erwähnt werde, fühle ich mich ganz klar gut in meiner Haut. Es spornt mich an, noch härter zu arbeiten. Springsteen ist eine Legende. Schon sehr früh war Springsteen ein brillanter Performer. Er konnte auf die Bühne gehen – ein zerlumpter kleiner Kerl in schmutzigen Klamotten – und die Leute waren wie gebannt.
Ihre Songs sind wie Kino.
Filmische Songs – das war schon immer mein Ding. Mein größter Traum war es, darin zu verschwinden – einen Song machen zu können, der dich in ein Haus, in einen Laden, in ein Auto, in eine Liebe versetzt. Wenn Delines-Produzent John Askew und ich uns ansehen und nicht mehr an Amy denken, wissen wir, dass wir in der Welt des Songs sind, dann haben wir das Gefühl, dass wir an etwas dran sind. Ich möchte das Gefühl haben, dass man in einem kleinen Film lebt. Dann bin ich zufrieden.
Sobald jemand die Unterschicht der USA beschreibt, heißt es: „Wenn ihr dieses Buch lest, diese Songs hört, wisst ihr alles über die Trumpwähler.“ Sind Ihre Figuren Maga-Leute?
Ich schreibe viel über emotional beschädigte Menschen, das ist wahr. Ich schreibe über Leute, die Wunden abbekommen oder sie sich selbst zugefügt haben. Aber Sie haben recht: Die Arbeiterklasse wurde von Trump gehijackt. Ich lebe in einer ländlichen Gemeinde 30 Meilen außerhalb von Portland und es ist eindeutig Trump-Land.
Willy Vlautin über den Einfluss rechter Medien auf Landbevölkerung und Arbeiterklasse
Wie ist das passiert?
Meine Mutter war eine Mittelklasse-Demokratin, die rechts wurde wie viele in Amerika. Sie ist noch vor Trump gestorben. Ich habe ihren Wandel miterlebt. Ich persönlich fühle mich zurzeit, als würde ich eine Gasse entlanggehen und zusammengeschlagen werden. Ich verstehe nicht, wo Amerika jetzt steht. Die Landbevölkerung und die Arbeiterklasse sind von Trump gepackt und verführt worden. Es ist für mich immer wieder erstaunlich, wenn einem reichen Mann vertraut wird, der absolut keine Ahnung von den Problemen der Arbeiterklasse hat, und der glaubt, er hätte die Antworten. Ich bin ratlos und kämpfe jeden Tag damit. Er hat einen starken Fußabdruck auf uns hinterlassen.
Welche Rolle spielen die Medien?
Eine Sache, über die es interessant wäre, nachzudenken – bezüglich Amerikas Hinrutschen zu Trump – ist das Fernsehen, ist Fox News, das die meisten Landbewohner, Kleinstadtbewohner, die meisten Republikaner, jeden Tag sehen. Die sind unerbittlich – eine Propagandamaschine. Was auch für den ländlichen Rundfunk gilt. Sie haben wirklich Einfluss, funktionieren bestens und hören einfach nicht auf. Als ich jünger war, hatte meine Mutter einen Freund, der jeden Tag so einem Rechtsradiotypen zuhörte. Meine Mutter hat das Zeug lange nicht geglaubt. Aber dann wurde das Leben härter. Und sie wurde immer wütender. Und sie begann nach rechts zu schwenken. Es dauerte nicht sechs Monate, es dauerte nicht ein Jahr. Es dauerte zehn Jahre, während derer dieser Typ an jedem einzelnen Tag seine Propaganda machte. Und ich denke, das ist das, was am schwersten zu besiegen ist. Wenn es Nachrichten gäbe, die wirklich ehrlich und fair sind, wäre Trump nie gewählt worden.
Willy Vlautin (57) wurde in Reno, der Spielerstadt im US-Bundesstaat Nevada geboren - als jüngerer von zwei Söhnen einer alleinerziehenden Mutter. Schon als Kind hatte er einen Blick für arme und desolate Menschen, Drogensüchtige und gescheiterte Existenzen, die ihn ab dem Alter von elf Jahren zu Liedern inspirierten - woraus sein Lebensthema als Songwriter und Autor wurde. Mit der Americanaband Richmond Fontaine nahm er als Songwriter, Sänger und Gitarrist zwischen 1996 und 2016 ein Dutzend Alben auf. In den Zehnerjahren gründete er die Countrysoulband The Delines, bei der er den Gesang an die Damnations-Sängerin Amy Boone abgab. Die Delines spielten bis jetzt fünf Alben ein. 2005 veröffentlichte er mit „The Motel Life“ seinen ersten von bislang sieben Romanen. Sechs davon sind in deutscher Übersetzung erschienen, zuletzt wurde im Sommer 2024 in den USA der autobiografisch durchwirkte Roman „The Horse“ veröffentlicht. Als Musiker wird Vlautin immer wieder mit Bruce Springsteen und Tom Waits verglichen, als Autor mit Raymord Carver und John Steinbeck, der mit dem Roman „Früchte des Zorns“ (1939) zur Stimme der entwurzelten Menschen der Großen Depression der 30er-Jahre wurde. Vlautin ist Gewinner des renommierten Joyce Carol Oates Literaturpreises 2025, der seit 2017 jährlich vergeben wird.
Kann das geändert werden?
Die Medien haben sich auf eine Art und Weise bewegt, die wirklich schwer zu bekämpfen ist. Eine zivile Diskussion, Empathie, die Sorge um den Mitmenschen ist viel komplizierter als zu sagen: „Der Typ da drüben ist der Bösewicht – schnappen wir ihn uns!“ Wir alle hätten gern jemanden mit der Antwort auf alles. Das Ding ist: Demokratie ist chaotisch, und unsere scheint schon seit einiger Zeit kaputt zu sein. Gewöhnliche Menschen werden es leid, dass ihre Stimme nicht zählt. Und dann kommt der starke Mann ins Spiel, nicht wahr? Und genau das ist die Situation, in der sich Amerika befindet. Es ist eine beängstigende Zeit, weil ich auch nicht glaube, dass sich das ändert. Sie sind brillant in den Medien, sie haben eine Droge, die wirklich funktioniert.
Willy Vlautin über den schweren Unfall von Delines-Sängerin Amy Boone
Nach Ihrer Americana-Band Richmond Fontaine kamen die Delines mit elegantem angejazztem Countrysoul. Ihren Sängerposten übernahm eine Frau. Braucht man da einen feminineren Schreistil?
Ich habe den Roman „Northland“ geschrieben – da gab es eine weibliche Hauptfigur. Ich habe Frauenfiguren bei Richmond Fontaine geschrieben. Ich bin von einer Frau großgezogen worden, und die besten Leute in meinem Leben waren allesamt Frauen. Daher kommt vielleicht meine Fähigkeit, mich ans Schreiben für eine Frau herantrauen zu können. Wenn ich für Amy schreibe, höre ich ihr viel zu und denke viel über sie nach. Und: Jedes Lied, das sie nicht singen will, schneiden wir raus.
Amy Boone ist eine echte Kämpferin. Für die Delines hätte es nach nur einem Album vorbei sein können.
Sie war auf nem Parkplatz, lief auf dem Bürgersteig. Dort hatten sie die Sicherheitsbarrieren entfernt. Eine Frau fuhr mit einem Gips am Fuß, blieb am Gaspedal hängen und rammte Amy in eine Felswand. Amy brauchte fast zwei Jahre, um sich zu erholen. Sie musste elf Mal operiert werden. Zu diesem Zeitpunkt lebte sie noch nicht in Portland und konnte kaum laufen. Sie flog trotzdem hierher, um das zweite Album „The Imperial“ fertigzustellen. Ich glaube, in der Delines-Welt blieb sechs Monate lang kein Auge trocken, weil wir uns um sie sorgten.
Sie haben auf Amy gewartet.
Es gibt keine Delines ohne Amy. Ich habe die Band für sie gegründet. Ich bin geduldig. Ich habe ihr in dieser Zeit eine Menge Songs geschrieben. Sie ist meine Freundin, wissen Sie. Die Band bedeutete mir zu diesem Zeitpunkt nichts – du willst nur, dass es deiner Freundin gut geht und sie ihr Leben zurückbekommt.
Schreiben Sie Romane, weil manche Figuren mehr Raum brauchen, als ein Song bieten kann? Wie die von Frank und seinem Bruder Jerry Lee, der in „Motel Life“ ein Kind überfährt, oder die vom Teenager Charley, der in „Lean on Pete“ mit einem Rennpferd, das geschlachtet werden soll, auf eine Odyssee geht?
Nur einer meiner Romane, „Nacht wird es immer“, begann nicht als Song. Im Fall von Frank und Jerry Lee in „Motel Life“ schrieb ich einen Song über die Schwierigkeit, für sich selbst einzustehen, wenn man das nie konnte. Eines meiner Hauptthemen. Und dann ist aus Spaß ein Buch daraus geworden. Dann versuchte ich, mit den Pferderennen Schluss zu machen, und schrieb darüber einen Folksong – „Lean on Pete“. Neun Minuten lang! Ich habe ihn nur zweimal gespielt. Erst für meine Frau, und sie fing nach der Hälfte des Stücks an zu weinen. Ich dachte: „Mann, ich bin ein Genie!“ und fragte sie hinterher „Magst du es so sehr?“ Und sie: „Nein, ich weine, weil ich dich nicht verstehe. Warum schreibst du so ein Lied. Es ist furchtbar!“ (lacht) Dann habe ich es einem Freund von mir vorgespielt, der gerne in meine Songs reinhört. Also sagte er: „Na gut. Wenn es neun Minuten dauert, lege ich mich auf die Couch.“ Und ich lüge nicht, er schlief nach der Hälfte ein. Da wusste ich – dieser Song würde es nicht schaffen. Also habe ich ihn zu einem Roman gemacht. „Northline“ kam so zustande. „Ein feiner Typ“ auch. Ich stelle mir immer vor, dass die Songs und die Romane alle im selben Wohnhaus leben und sich jeden Tag über den Weg laufen.
Willy Vlautin über die Verbindung zwischen seinen Büchern und Liedern
Wissen Sie, wenn ein Buch in einem Song steckt?
Nimm „JP and me“ auf der neuen Platte. Sie sind ein Paar auf der Flucht. Man merkt, dass sie ein wildes Leben führen, sie hängen mit Leuten wie dem einbeinigen Kyle und dem kaputten Sid herum. Sie leben in Hotels und Motels. Dann dreht der Mann durch. Ich war mit diesen Figuren fertig, sobald ich den Song fertig hatte. Bei „Nancy and the Pensacola Pimp“ über eine 16-Jährige, die an einen Zuhälter gerät, hatte ich das Gefühl, dass ein Roman in Nancy steckt. Ich weiß nicht, ob er je geschrieben wird. Aber manche Lieder öffnen mehr Türen, sie sagen mir: „Mach weiter.“
Der Musiker Al, Held Ihres jüngsten Buchs „The Horse“, hat seine Gitarren weggegeben, sich in die Wüste zurückgezogen. Hatten Sie jemals ähnliche Gedanken, der Welt zu entfliehen?
Nur stündlich (lacht). Wissen Sie, ich bin 2014 mit einem alten Freund durch das ländliche Nevada gefahren. Und wir waren 30 Meilen von einer asphaltierten Straße entfernt, wir waren wirklich weit draußen. Da stießen wir auf ein wildes Pferd, das völlig blind war. Als wir es entdeckten, befand es sich auf einer großen Salzfläche. Im Umkreis von fünf Meilen gab es kein Wasser, im Umkreis von drei Meilen gab es keinen einzigen Baum. Ich habe eine Schwäche für Pferde, ich dachte an all die Narben auf diesem alten Pferd und sagte mir: „Oh, das ist ein alter Mann! Er hat all diese Schrammen, hat Kämpfe und Missgeschicke in seinem Leben durchgemacht, nur um dann blind und allein in der Wüste zu enden.“ Das hat mich persönlich getroffen. Die beiden schlimmsten Dinge für ein Pferd – allein zu sein und nicht zu sehen, was es erschreckt. Was für eine harte Art zu enden.
Was haben Sie dann gemacht?
Wir kampierten in der Nähe, und am nächsten Tag kam das Bureau of Land Management und kümmerte sich um das Pferd. Dann fuhren wir weiter und kamen zu einem stillgelegten Minengelände aus den 50ern. Es gab nur noch eine kleine Hütte. Und ich sagte zu meinem Freund: „Mann, lass mich einfach hier, ich bin fertig, ich kann mir so etwas nicht mehr ansehen. Ich habe zu viel getrunken, zu viel getourt und mein Leben ist irgendwie aus dem Ruder gelaufen.“ Sein erster Kommentar war: „Wo willst du hier deinen Plattenspieler anschließen? Und wie willst du deine Frau zurückkriegen, wenn sie dich verlässt? Sie wird die Schlösser austauschen!“ Tja, diese Seite von mir gibt es auch.
Willy Vlautin über das Thema Glück
Sie haben oft Tiere auf den Plattenhüllen. Auf dem neuen Delines-Album ist ein Wolf. Sind diese Tiere Seelen, Gespenster, Spiegel?
Das ist ein Kojote. Der Kojote ist als Gauner bekannt. Kojoten sind Diebe. Und die Platte ist voll von Dieben auf der Flucht. Als ich das Bild des Tiers gesehen habe, dachte ich: „Ah, als stünden alle Figuren aus den Geschichten der Songs in einer Reihe.“ Das mit den Pferden und mir – vielleicht ist es ein romantisches Gefühl, weil ich zu viele Filme gesehen habe.
Sie haben eine starke Band, Erfolg als Schriftsteller, leben auf einem schönen Bauernhof – sind Sie ein rundum glücklicher Mann?
Ich sage mal, ich bin ein Mann, der Glück hat. Ich habe ein kleines Büro in Portland. Und ich sehe dort die Leute, die den ganzen Tag hart arbeiten. Es gehen keine zehn Minuten vorbei, in denen ich mich nicht glücklich darüber fühle, dass ich Geschichten schreiben kann. Ich habe das Gefühl, dass ich im Lotto gewonnen habe, weil ich schreiben darf. Und weil ich mit 57 Jahren in einer Band bin, in der ich mir nicht die Haare färben und versuchen muss, jung zu wirken. Aber rundum glücklich? Ich wünschte, ich wäre das, Mann. Wie jeder von uns habe ich meine Dämonen und meine Narben. Ich bin so glücklich, wie man sein kann, und ich versuche, rundum glücklich zu sein. Aber weißt du, das Leben ist ein schwieriger Ort, um glücklich zu sein.

"Der Kojote ist als Gauner bekannt": Das Cover des neuen Delines-Albums "Mr. Luck & Ms. Doom", das - laut Willy Vlautin - "voll von Dieben auf der Flucht" ist.
Quelle: Missy Prince
Das neue Album: The Delines – „Mr. Luck & Ms. Doom“ (El Cortez Records/Decor)
Konzerte: The Delines am 6. Mai, Nochtwache, Bernhard-Nocht-Straße, Hamburg; 12. Mai Privatclub, Skalitzer Straße, Berlin; 13. Mai Kulturzentrum Schlachthof, Bremen; 14. Mai, Wunderbare Weite Welt, Eppstein.
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